Kommentar von Felix zum Eintrag vom 02.11. bin ich gebeten worden, ein bisschen was zur Debatte der Jungen Liberalen um den Familienbegriff zu erzählen. Meine geplante Antwort war für einen Kommentar zu lang, daher nun als eigener Eintrag:
2008 haben nach den JuLis Hessen auch die Jungen Liberalen im Bund ein neues Grundsatzprogramm beschlossen, dessen Familienbegriff jeweils recht offen formuliert ist und der, besonders im Bundesverband, heiß umstritten war. Die Formulierung des Bundesverbands ist sicherlich auch noch etwas mutiger.
Wiesbadener Thesen aus Hessen (2008):
"Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Als Vertreter eines liberalen Gemeinwesens maßen wir uns jedoch nicht an, zu bestimmen, welche Form des Zusammenlebens die jeweils beste für die Menschen in unserem Land ist. Vertrauen und die Übernahme von generationenübergreifender Verantwortung füreinander machen unseren Familienbegriff aus. Verheiratete Paare, zusammenlebende unverheiratete Paare, gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder auch Alleinerziehende sind nur einige der vielfältigen Lebensformen, die unsere Gesellschaft bereichern. Ein intaktes familiäres Umfeld aber bildet die Grundlage für eine stabile und selbstbewusste Persönlichkeitsentwicklung. Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen, verdienen deswegen den Schutz der Gesellschaft. Es ist eine besondere Herausforderung, allen Kindern und Jugendlichen, die in unserem Land leben, gerechte Chancen auf ein Leben in Freiheit und Wohlstand einzuräumen: eine Herausforderung, der sich jede wirklich liberale Gesellschaft stellen muss."
Humanistischer Liberalismus des Bundesverbands (2008):
"Unser Familienbild ist offen: Familie ist für uns das gemeinsame Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern, in dem die Erwachsenen dauerhaft Verantwortung für die Kinder übernehmen, oder von Erwachsenen, in dem diese dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen. Nur dieses offene Familienbild wird der Wirklichkeit gerecht. Denn die Aufgaben der Familie übernehmen heute nicht mehr nur Lebensgemeinschaften von leiblichen Eltern mit ihren Kindern oder die Ehe samt klassischen Verwandtschaftsverhältnissen. In der Wirklichkeit von heute leben beispielsweise Alleinerziehende mit Kindern, Patch-work-Familien oder schwule oder lesbische Paare mit Kindern oder ohne Kinder. Menschen ohne geschlechtliche Beziehung zueinander bilden auf Dauer angelegte Gemeinschaften, um sich etwa die Unabhängigkeit von Alten- und Pflegeheimen zu bewahren oder um schlicht das Leben zusammen zu meistern. In all diesen Formen nehmen Menschen aus freier Entscheidung Verantwortung füreinander wahr und bilden Verantwortungsgemeinschaften. Deshalb sind diese Verantwortungsgemeinschaften ebenso schutzwürdig wie die klassische Familie. Für den Schutz und die Förderung der klassischen Familie wie der modernen Familie im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft setzen wir uns ein."
In der Debatte, die nicht nur auf den Kongressen, sondern auch vorher recht breit im Verband geführt wurde, wurden beide Extrempositionen vertreten - vom klassischen Bild der Ehe mit Kindern bis zu einem Familienbegriff, der keine scharfe Unterscheidung zwischen Freundschaft und Familie mehr zulässt. Es erschien vielen von uns als Zumutung, solange angeblich "ohne Familie" zu sein, bis man einen Ehepartner gefunden und mit ihm/ihr mindestens ein Kind bekommen hat. Sicherlich spiegelte sich unsere Lebensrealität stark in der Diskussion: einerseits entstammen doch die meisten JuLis der (oberen) Mittelschicht und haben eher keine alleinerziehenden Mütter und leben mit ihren zwei Halbgeschwistern von Transferleistungen; andererseits leben als junge Erwachsene die wenigsten von uns in klassischen Familienstrukturen, sondern sind häufig allein in der Großstadt, in WGs oder sonstwie sozial eingebunden. Ein bisschen ging es um das Recht, sich symbolisch und sozial von seinen Eltern lösen zu dürfen, ohne eine eigene klassische Familie gegründet zu haben. Denn wer einerseits auf einem klassischen Familienbild besteht und andererseits die Familie zum "höchsten Gut" oder "Keimzelle der Gesellschaft" erklärt - sie also quasi zum unverzichtbaren Baustein des guten Lebens macht - der spricht eben dieses gute Leben vielen jungen Erwachsenen ab.
4 commentaires:
Gibt es denn bei den Julis auch Bestrebungen nennenswerter Minderheiten, den Familienbegriff ganz aus dem politischen Diskurs herauszunehmen? Bei der Grünen Jugend taucht das zumindest vereinzelt von Zeit zu Zeit auf.
Ich bin mir persönlich nicht sicher, ob der Begriff das, was er in diesem erweiterten Sinne leisten soll, überhaupt hergibt. Bei den beiden Erklärungen fällt mir auf, dass Familie als ökonomische Gemeinschaft überhaupt nicht auftaucht - es ist die Rede davon, dass es eventuell Kinder gibt und dass Verantwortung, ggf. zur gemeinsamen Lebensbewältigung, füreinander übernommen wird.
Anders gefragt: Was ist nach jungliberaler Sicht der Unterschied zwischen einer Familie und einem Haushalt? Reicht nicht eventuell ein erweiterter Haushaltsbegriff an Stelle des ideologisch vorbelasteten Familienbegriffs?
Erstmal danke für die ausführliche Beantwortung meiner Frage. Mir sind die Juli-Positionen sehr sympathisch.
Ich halte auch nichts davon, auf den Familienbegriff zugunsten eines erweiterten Haushaltsbegriffs zu verzichten, gerade aus einer liberalen Position heraus: Familie ist nicht nur Verantwortungsgemeinschaft, sondern (u.a. auch dadurch) auch ein radikal nicht-staatlicher Raum, der es institutionell ermöglicht (quasi als kleinste Einheit eines gesamtgesellschaftlichen Föderalismus), eine Allzuständigkeit des Staates zu verhindern. Indem die Gesellschaft durch solche Verantwortungsgemeinschaften fragmentiert ist, gibt es unzählige kleine, unabhängige Zellen. Das leisten Lebensmodelle, die »nicht Familie« sind, zwar auch in gewissem Maß. Familie als Verantwortungsgemeinschaft (das dürften die meisten WGs über einen gemeinsamen Kühlschrank hinaus nicht sein) erreicht aber (indem eigene Sicherungssysteme geknüpft werden) noch eine größere Unabhängigkeit. (Die Problematik, daß Familie, jede Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, eben nicht nur Freiheitsräume eröffnet, sondern auch die Möglichkeit neuer – nichtstaatlicher und nicht staatlich kontrollierte oder kontrollierbare – Zwangssysteme bietet, kommt dann allerdings noch dazu.)
Auch wenn ich den Wert der Familie wesentlich darin sehe, daß sie gerade ein politik-, ein staatsfreier Raum ist (in meinem Blog habe ich das vor kurzem ausführlich diskutiert), folgt für mich daraus nicht, daß der Familienbegriff aus dem politischen Diskurs herausgenommen werden müßte: Ziel einer freiheitlich orientierten Politik sollte es auch sein, solche Voraussetzungen eines freiheitlichen Staates zu erhalten und zu fördern. (Und neue Formen der Verantwortungsgemeinschaft, wie es sie etwa in Frankreich mit dem Pacte civil de solidarité gibt, können die Problematik repressiver Familienstrukturen lindern, indem neue Exit-Optionen für klassische Familienzusammenhänge geschaffen werden.)
Wahrscheinlich würde es uns wirklich weiter bringen, auf den Begriff weitgehend zu verzichten, jedoch halte ich das nicht für praktikabel.
Der ökonomische Aspekt kam in unserer Analyse bisher in der Tat zu kurz. Jedoch denke ich schon, dass man einen Haushalt, der ja auch eine Zweck-WG sein kann von einer Familie, die nicht im selben Haushalt wohnen muss, ganz gut abtrennen kann.
Wie definiert man Familie als Verantwortungsgemeinschaft, ohne auf ökonomische Größen zurückzugreifen? Lässt sich Übernahme von Verantwortung jenseits des Abdeckens quantifizierbarer Versorgungsbedürfnisse in Recht und Verwaltungspraxis irgendwie brauchbar festlegen? Ich rieche da Einfallstore für den gegenwärtig modischen Paternalismus des Bildungsbürgertums - zugespitzt gesagt: ganz egal, wieviel einer verdient und in seine Familie steckt: wenn er in der Küche raucht und seinen Kindern nicht genügend Haydn vorspielt, übernimmt er sichtlich keine Verantwortung und ist ein Unterschichtler, dem man die Kinder wegnehmen kann und muss. Das kann man nicht wollen.
Ich bin mir auch nicht sicher, warum "radikale Nichtstaatlichkeit", "Knüpfung von Sicherungssystemen" etc. gerade Eigenschaften von Familie sein sollen. Wo ist dann der Unterschied zwischen einer Familie, einem klassisch-patriarchalischen Industrieunternehmen, einem Kloster, einer Hippiekommune? In puncto Staatszugewandheit schenken die sich gegenseitig nichts.
Ich bin mir ziemlich sicher: Familie muss man entweder ökonomisch definieren (und dann wohl den Terminus aufgeben, weil seine Extension nicht mehr mit der alltagssprachlichen Intension zusammenfällt) oder über das faktische Vorhandensein von rechtlich und verwaltungsmäßig eindeutig feststellbaren Stark-Schwach-Beziehungen (Erziehung, Betreuung, Pflege). Alles andere riskiert über kurz oder lang die Instrumentalisierung, und sei es nur zur Abwertung überfamiliärer nichtstaatlicher Solidargemeinschaften.
Ansonsten sei angemerkt, dass Wohngemeinschaften steuerrechtlich normalerweise gerade kein Haushalt sind, weil nicht gemeinsam gewirtschaftet wird (!). Trotzdem halte ich Felix' Anmerkung über die vermeintlich verantwortungsarme Koexistenz der meisten WG-Bewohner für nicht nur ungeschickt, sondern schlicht empirisch falsch.
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